Zeit ist Leben_Geißler

Das Ende der Uhrendiktatur

Zeitforscher Karlheinz Geißler. Foto: Petra Kurbjuhn

Nachruf auf Karlheinz Geißler

„Karlheinz – ‚Kalle‘ Geißler hat das Zeitliche gesegnet. Das hat er zwar sein Leben lang getan, jetzt aber endgültig. Er ist am 09.11.2022 friedlich und mit aufrichtiger Klarheit gestorben.“ Das schreibt sein Sohn Jonas. Wir bringen im Gedenken an ihn einen Artikel, der aus einem Gespräch mit dem Zeitforscher hervorging und in der 34. Ausgabe der KulturBegegnungen stand.

Karlheinz Geißler war bis zu seiner Emeritierung Professor für Wirtschaftspädagogik an der Bundeswehruniversität München und gilt als der deutsche Zeitforscher schlechthin. Zeit seines Lebens befasste er sich mit dem Diktat der Uhr und hat jetzt die frohe Botschaft: Die Uhrzeit ist zu Ende, die Uhr kann gehen.

Petra Kurbjuhn
Uhr ohne Zeiger. Foto: Petra Kurbjuhn

600 Jahre lang unterlag die Menschheit dem Diktat der Uhr, erzählt der Zeitforscher. Nachdem sich der Mensch vorher dem Rhythmus der Natur anpasste und nach der Sonnenuhr lebte, ließ er sich nach der Einführung der Räderuhr in das Gefängnis der getakteten Zeit pressen.

„Das Band zur Natur wurde abgeschnitten“, stellt Karlheinz Geißler fest und verweist auf eine Baumscheibe, die den Lauf der Naturzeit symbolisiert. Diese ist elastisch und reagiert auf äußere Einflüsse, die Ringe wiederholen sich zwar, aber mit Abweichungen. Die Uhr hingegen hat einen präzisen Takt, der immer dasselbe wiederholt.

Zeit ist Leben
Buchcover „Zeit ist Leben“. Foto: MZ

Aus der Macht der Natur wurde die Macht des Menschen, aber das konnte nicht gut gehen, es sei unnatürlich. Und so kam es zu den heutigen Problemen. „Zeit ist Geld“, zitiert der Wissenschaftler, der mit Stechuhr vertaktete Mensch habe gesundheitliche Probleme. Und was den Wohlstand durch Vertaktung anbelange, sähen wir die Auswirkungen an den massiven ökologischen Problemen unserer Zeit.

Jetzt aber, davon ist Karlheinz Geißler überzeugt, läuft die Uhrzeit ab. „Der Takt ist zu starr, das bringt uns nicht weiter.“ Die Uhr werde vom Mobiltelefon abgelöst. Man müsse sich nicht mehr nach starren Zeiten richten, sondern das Handy erlaube Flexibilität. „Unser Wohlstand wird nicht mehr über Schnelligkeit, sondern über Verdichtung geregelt, also immer mehr in derselben Zeit zu tun.“ Diese Flexibilisierung des Handys reduziere zwar die Taktnotwendigkeit, aber sie liefere nicht den notwendigen Rhythmus, das müsse der Mensch selbst tun. „Es kann der richtige Schritt sein“, sagt der Zeitforscher, beispielsweise würden viele Betriebe Gleitzeit einführen.

Weg der Enttaktung

Corona beschleunigt zweifelsohne den Weg der Enttaktung. Das Homeoffice schafft den Sonntag ab, die Wochenstruktur fällt weg. Stabile gewohnte Elemente gibt es nicht mehr, jeder muss seine Erholung selbst organisieren. „Die Flexibilität kann lästig sein und sie kann Freiheit bedeuten“, macht Karlheinz Geißler die Ambivalenz der neuen Zeit deutlich. Obwohl die Menschen mehr Zeit hätten, bräuchten sie mehr Zeit, um das Leben zu organisieren.

Cover Buch
Buchcover „Die Zeit kann gehen“. Foto: MZ

Führt nun aber der durch Corona erzwungene Stillstand zu mehr Resonanz, zu mehr Verbundenheit mit der Natur? Die Möglichkeiten sind gewachsen, ist Karlheinz Geißler überzeugt, die Frage sei, ob das auch wahrgenommen werde. „Ich kann mich mit Laptop an die Isar setzen, kann Natur und Arbeit verbinden, das gab es früher nicht“, sagt er.

Und haben die Menschen die Entschleunigung genossen? Das sei je nach Situation und Stimmung unterschiedlich, macht der Wissenschaftler die Ambivalenz auch hier deutlich. „Der äußere Zeitgeber fiel weg, aber es war auch lästig, dass man Kinder nicht in die Schule geben konnte.“ Wichtig sei, ob ich über die Freiheit der Zeit entscheiden kann. Und vielen macht Zeitfreiheit Angst. Das sehe man am besten an der Pensionierung. Vertaktete Menschen sind orientierungslos, sie haben es nie gelernt, weil Orientierung vorgegeben wurde.

Produktivität der Langsamkeit

Warum eigentlich hat sich Karlheinz Geißler mit dem Thema befasst? „Ich hatte mit vier Jahren Kinderlähmung, ich konnte also nicht über Schnelligkeit erfolgreich werden, sondern über Langsamkeit.“ Er habe sehr viel gelernt über die Produktivität der Langsamkeit. Die Betriebswirtschaftslehre berechne Zeit in Geld, man wolle Zeit gewinnen und Pädagogik mache das Umgekehrte, dabei werde Zeit verloren. Beides sei produktiv. Die heutige Sehnsucht vieler Menschen aufs Land zu fahren, zeige, dass man wieder die rhythmische und langsame Zeit erleben wolle. Um zeitlos zu leben, sollte man mit kleinen Kindern spielen. „Wenn das Kind die Uhr lernt, ist die Kindheit vorbei.“

Die Uhr kann gehen
Die Uhr kann gehen. Foto: MZ

Gemeinsam mit Sohn Jonas bringt Karlheinz Geißler diese Fragen auch zu Unternehmen. Er fragt: „Braucht es für Effizienz Beschleunigung?“ Auch in Firmen sei der Rhythmus produktiver als der Takt, sowohl was das Ergebnis als auch was das Wohlergehen der Mitarbeiter anbelangt.

„Man muss die Zeit auf sich zukommen lassen“, sagt Karlheinz Geißler am Ende unseres Gesprächs. Corona habe uns gezwungen zu warten, das sei ein neuer anderer Wert, eine Chance und eine produktive Situation.

Der Artikel erschien in der 34. Ausgabe der KulturBegegnungen auf Seite 19. In unserem Onlinemagazin rezensierten wir mehrere Bücher von Karlheinz Geißler.

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