Die 4. Spurwechselkonferenz mit Überraschung

Die vierte Spurwechselkonferenz im Kulturzentrum Waitzinger Keller mit vielen interessanten Persönlichkeiten und deren Geschichten vom Spurwechsel. Foto: Petra Kurbjuhn

4. Spurwechselkonferenz

„Wir sind da, weil das Thema wichtig ist“, eröffnete Monika Ziegler die vierte Spurwechselkonferenz am vergangenen Samstag im Kulturzentrum Waitzinger Keller in Miesbach. Sechs beeindruckende Menschen erzählten dort von ihrem eigenen Spurwechsel, der bei den meisten von ihnen nicht nur einmal im Leben stattfand. Dabei ging es vor allem um das Mut Machen und die Sicherheit, dass wir als Menschen mit unseren Schicksalen nicht alleine sind.

Vor elf Jahren inspirierte eine 3-Sat-Sendung Monika Ziegler dazu, die Spurwechselinitiative im KulturVision e.V. zu gründen. Die Frage „Wie will ich gelebt haben?“ sollten sich die Menschen im Bestfall nicht erst auf dem Sterbebett stellen, sondern mitten im Leben, wenn noch genügend Zeit ist, richtig auf die darauffolgende Antwort zu reagieren. „Denn wenn wir feststellen, dass das gewünschte Leben anders aussieht als das, dass wir führen, ist es Zeit einen Spurwechsel zu unternehmen“, erklärte die Vereinsvorsitzende.


Der Austausch zwischen den Spurwechslern und dem Publikum. Foto: Petra Kurbjuhn

Egal ob ein Spurwechsel gewollt oder durch äußere Umstände erzwungen wurde, manche würden dabei Unterstützung benötigen. Deshalb fanden in den vergangenen elf Jahren nicht nur die monatlichen Spurwechsel-Stammtische, sondern auch unterschiedliche Seminare, Coachings, Spurwechselwege und eben Konferenzen statt. Dort kommen Persönlichkeiten zusammen, die von ihren erfolgreichen Spurwechseln erzählen. Die Mut machen, inspirieren und ihr Resümee ziehen.

Der erste Spurwechsler ist zurück

Einer der ersten Spurwechsler, welche die Initiative 2013 vorstellte, ist der Bildhauer Andreas Kuhnlein. Nach einem beeindruckenden Film über seine Arbeiten, erzählte er im Gespräch mit Monika Ziegler, welche unterschiedlichen Spurwechsel er in seinem Leben schon hinter sich gebracht hat. In der Landwirtschaft im Chiemgau aufgewachsen, entschied er sich zunächst für eine Schreinerlehre und wechselte dann zum Bundesgrenzschutz.

„Diese neun Jahre waren die wichtigste Zeit meines Lebens“, resümierte er in Miesbach. Zahlreiche einprägsame, oft von Gewalt geprägte, Einsätze erlebte er in dieser Zeit. Von 1972 bis 1981 war er Streifenführer an der bayerischen Grenze zu Thüringen, war Teil der RAF-Prozesse und der ersten großen Anti-Atomkraft-Demonstrationen.


Der Bildhauer Andreas Kuhnlein sprach über seine Spurwechsel und dem steinigen Weg zum Erfolg. Foto: Petra Kurbjuhn

Nach seinem ersten Spurwechsel als junger Mann, folgte dann der zweite, erzwungene Wechsel. Denn seine Tante und Mutter hatten die eigene Landwirtschaft bis dahin selbst geführt, konnten dies aus gesundheitlichen Gründen nun nicht mehr. „Ich war stark verwurzelt zuhause und hatte die Verantwortung für beide“, erzählte Andreas Kuhnlein. Er kündigte beim Bundesgrenzschutz und ging zurück ins Chiemgau, um den Hof weiterzuführen.

Ein „finanzielles Fiasko“, wie er sagte. Weshalb er wieder in dem Schreinerbetrieb seiner Lehre anfing zu arbeiten. Doch die Arbeit dort und auch das kollegiale Umfeld brachten ihn dazu sich selbstständig zu machen. Er arbeitete jahrelang als Auftrags-Schnitzer und -schreiner für das gesamte Achental, entdeckte in dieser Zeit seine Liebe zur Kunst.

Lesetipp: Die Wahrheit über den Missbrauch

Es folgte ein weiterer prägender Spurwechsel: Andreas Kuhnlein wurde Vollzeit Bildhauer und fertigt bis heute sehr erfolgreich beeindruckende Skulpturen aus Holz an, die den Menschen in seiner Verletzlichkeit darstellen und sich internationaler Beliebtheit erfreuen. Zudem wird er nicht müde, sich durch seine Kunst immer wieder für teils kritische gesellschaftliche Themen einzusetzen, wie etwa den Missbrauch in der katholischen Kirche.

Von Syrien an den Tegernsee

Nicht weniger schicksalsträchtig, emotional und beeindruckend waren die folgenden Beiträge der sechs Protagonisten der diesjährigen Spurwechselkonferenz. Wie etwa der Literaturwissenschaftlerin Najd Boshi, die 2014 aus ihrer Heimat Syrien vor dem Krieg floh, um sich und ihren beiden Kindern eine Zukunft in Sicherheit bieten zu können. Eine beeindruckende Lebensgeschichte, geprägt von viel Schmerz und Verlust, nicht vorstellbaren Hürden und vor allem von einer Frau, die durch ihr positives Wesen ihren Weg bis nach Tegernsee gefunden hat.


Die syrische Literaturwissenschaftlerin Najd Boshi erzählte über ihre Flucht und ihr neues Leben. Foto: Petra Kurbjuhn

Nach dem Martyrium ihrer Flucht konnte sie 2015 endlich auch ihre beiden Kinder in die neue Heimat holen und bewies durch ihre Stärke, ihren Willen und die Fähigkeit, flexibel auf die Schicksalsgänge des Lebens zu reagieren, was alles möglich ist. Als erste Kapitänin auf dem Tegernsee wurde sie über die Landesgrenzen hinaus bekannt und arbeitet nun bei der Tegernseer Tal Tourismus GmbH. Diese vielen Spurwechsel seien nicht leicht gewesen, aber egal wie oft sie am Boden lag, sie habe immer das Wissen in sich getragen: „Das vorher habe ich auch geschafft!“ Eine beeindruckende Frau, deren Geschichte das Publikum in Demut zurückließ.

Ein emotionaler Spurwechsel

Über seinen schwierigen und emotionalen Spurwechsel aus der Alkoholsucht rein in ein erfüllendes Leben im Ehrenamt, berichtete Karl-Heinz Seybold. 2008 kam der gebürtige Allgäuer damals nach Miesbach. Im Gepäck sein eigenes Unternehmen das kurz vor der Insolvenz stand und bereits vier Jahre als Krebspatient. Auch in der neuen Heimat kam er zunächst nicht auf die Füße. „Der Alkohol schien der einzige Ausweg“, erzählte er. Die Krankheit übermannte ihn, bis er im Januar 2013 volltrunken aus dem Verkehr gezogen wurde.


Karl-Heinz Seybold erzählte sehr offen über seinen teils schwierigen Lebensweg. Foto: Petra Kurbjuhn

Es folgten viele schwere Jahre für Karl-Heinz Seybold, ein kalter Entzug, Suizidgedanken, tiefe Depressionen, Aufenthalte in Psychiatrien und eine toxische Beziehung, die seinen Suchtdruck nur noch schlimmer werden ließ. Als Kunde der Tafel in Hausham fand er Zugang zum Ehrenamt, fing dort als Helfer an und ist seit sieben Jahren selbst Leiter der Tafel Schliersee. Es folgten eine Ausbildung zum Demenz- und Suchtkrankenhelfer, um anderen Menschen helfen zu können. „Ich bin der festen Überzeugung, dass meine ehrenamtlichen Tätigkeiten mich seit zehn Jahren am Leben halten“, resümierte er. Halt fand er zudem in seinem Glauben und der evangelischen Kirchengemeinde in Miesbach, wo er das Montags-Miteinand für Senioren leitet.

Spurwechsel als Sinnsuche

Eine Geschichte der Sinnsuche erzählte Diana Scola. Die 45-Jährige wechselte von ihrem hochdotierten Job beim Automobilkonzern BMW in die Selbstständigkeit und gründete zusammen mit ihrem Mann das Start-Up „Lavli“. Die studierte Wirtschaftsingenieurin stand nach vielen erfolgreichen Berufsjahren kurz vor der Beförderung in die Führungsebene, doch der damit einhergehende Druck verursachte bei ihr starke physische und psychische Schmerzen. Sie schaffte rechtzeitig den Absprung, nahm sich ein Jahr lang eine Auszeit und wurde mit dem ersten von zwei Kindern schwanger. „Da hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Zeit, mir die Frage zu stellen, was ich machen möchte“, erzählte sie in Miesbach.


Diana Scola erzählte von ihrem Umdenken und dem Weg zu „Lavli“. Foto: Petra Kurbjuhn

Es sollte eine sinnstiftende Arbeit sein, in Verbindung mit der Natur, mit Menschen und guten Lebensmitteln. Die Dokumentation „Zeit für Utopien“ inspirierte sie und ihren Mann dazu, Anfang 2022 „Lavli“ zu gründen. Was mit einem Onlineshop für hochwertige, regionale Lebensmittelpakete startete, führte nun zur Gründung einer Genossenschaft, die im Herzen von Miesbach den ersten Laden für regionale Lebensmittel aufbauen soll. „Der Weg ist der Richtige“, sagte sie und gab den Tipp: „Man muss sich mit Menschen umgeben, die die gleichen Ideale und das gleiche Mindset haben.“

Zurück zu den eigenen Werten

Hochwertige Produkte – darauf schwört auch Mirko Göttfert. Der 54-Jährige arbeitet seit seiner Ausbildung in seinem Traumberuf als Metzger, doch viele Umwege führten ihn erst dort hin, wo er heute steht. Teilweise als Akkordzerleger in den verschiedensten Betrieben Deutschlands, in welchen zu Spitzenzeiten bis zu 1200 Großtiere wie Rinder sowie 2500 Schweine pro Tag verarbeitet wurden, arbeitete er sich physisch sowie psychisch kaputt, wie er erzählte. „Das Leid dieser Tiere war einfach nur schlimm“, sagte er ehrlich. Dies ging eigentlich gegen seine Grundsätze, denn von seinem Großvater, der ebenfalls Metzger war, hatte er die wertschätzende Einstellung gegenüber den Tieren übernommen.


Mirko Göttfert wechselte die Spur vom Schlachter am Fließband zur eigenen Bio-Metzgerei. Foto: Petra Kurbjuhn

Doch aufgrund von finanzieller Sicherheit für seine Familie stellte er diese jahrelang hinten an. Am Ende seiner Kräfte lenkte er dann um, kündigte in einem großen Betrieb in Miesbach und übernahm die Metzgerei Walch in Kreuth. Nach der EU-Zulassung führt er die „Steakschmiede Kreuth“ nun als zertifizierte Bio-Metzgerei, in der das Tierwohl an erster Stelle steht. Ausschließlich Tiere aus dem Tegernseer und Schlierseer Gebiet werden dort geschlachtet und verarbeitet. Seine Liebe zum Beruf und seine Grundwerte hat er an seine Tochter weitergegeben, welche diesen Herbst eine Metzgerlehre bei ihm anfängt.

Spurwechsel in den Unruhestand

Mehrere Spurwechsel und Schicksalsschläge hat auch Becky Köhl bereits hinter sich. Die gelernte Wirtschaftsprüferin erzählte von ihrem Weg in den Ruhestand, der so eigentlich keiner war. Denn Ruhe war sie schon in ihrer langjährigen Tätigkeit als Controllerin sowie kaufmännische Leiterin in international agierenden Firmen nicht gewohnt. „In der Finanzwelt gibt es Deadlines die nicht aufschiebbar sind, das war teilweise sehr stressig“, erzählte sie. Doch ein Rentnerleben ohne Aufgabe konnte sie sich auch nicht vorstellen.


Becky Köhl wechselte nicht nur einmal die Spur in ihrem Leben. Foto: Petra Kurbjuhn

Das Schicksal zwang sie und ihren Mann jedoch zu einem Spurwechsel, als sie die Bäckerei und das Restaurant von verstorbenen Angehörigen übernehmen mussten. Nach zweieinhalb Jahren im Gastronomie-Gewerbe, hätte sie mit ihren bald acht Enkelkindern eigentlich schon genug zu tun gehabt. Doch zurück im Landkreis Miesbach entschied sie sich für den nächsten Spurwechsel in die Kultur. Zunächst als Schatzmeisterin des Vereins KulturVision ist sie mittlerweile zweite Vorsitzende und bildet mit Monika Ziegler das Herz des Kulturvereins. „Ohne Becky würde bei KulturVision nichts laufen“, sagte diese.

Vom Makro- zum Mikrokosmos

Hartmut Wolf blickte bei seinem Vortrag auf zwei elementare Spurwechsel in seinem Leben zurück. „Vom Makro- zum Mikrokosmos“, nannte es Monika Ziegler und beschrieb es damit mehr als passend. Denn als Vorstandsvorsitzender in der Finanzwelt, war er bis zu seinem 51. Lebensjahr für verschiedene Investmentbanken in Europa und den USA tätig. Er verwaltete Aktien und Wertpapiere in Milliardenhöhe, stieg teilweise bis zu 250 mal im Jahr in den Flieger, um die internationalen Geschäfte zu leiten. Als sich mit den Änderungen auf dem Welt-Finanzmarkt auch die Abläufe in den Banken änderten, beendete er seine Zeit dort und gründete zwei Beratungsfirmen für Immobilienconsulting.


Hartmut Wolf ist nach vielen Jahrzehnten in der Finanzwelt nun Verleger in Miesbach. Foto: Petra Kurbjuhn

Zwölf Jahre lang lief alles gut, bis seine erste Frau stark erkrankte und dann starb. „Dann wollte ich vom Business nichts mehr wissen, kaufte mir ein Wohnmobil und reiste durch Europa“, erzählte er. Mit 66 Jahren entschloss er sich, der Liebe noch einmal eine Chance zu geben und fand sie in Miesbach, bei seiner zweiten Frau Verena. Gemeinsam gründeten sie das „Miesbacher Verlagshaus“. Für einen Spurwechsel sei neben einem starken Willen, Leistungsbereitschaft und Durchhaltevermögen vor allem eines wichtig: „Man muss ehrlich zu sich selbst sein und alles hinterfragen.“ Seinen Wissensschatz möchte er zukünftig an andere Spurwechsler weitergeben, kündigte Hartmut Wolf an.

Spurwechsel für die Spurwechsel-Initiative

Mit diesem Angebot sei er in der Spurwechsel-Initiative herzlich willkommen, sagte Monika Ziegler. Sie überraschte das Publikum im Waitzinger Keller mit der Nachricht, dass die Initiative selbst nun einen Spurwechsel vornimmt. Nach elf Jahren freue sie sich riesig, „das Kind Spurwechsel in jüngere Hände übergeben zu können“. Silke Borgmann, Susi Urban und Regina Deflorin D’Souza übernehmen die Spurwechsel-Initiative zukünftig. „Spannender Nachwuchs, der sich wiederum beim Spurwechsel-Stammtisch kennengelernt hat“, erzählte Monika Ziegler.


Monika Ziegler (Mitte) übergab die Spurwechsel-Initiative an (v.l.) Silke Borgmann, Susi Urban und Regina Deflorin D´Souza. Foto: Daniel Rasch

Die drei Frauen freuen sich über ihre neue Aufgabe, führen das Grundprinzip der Initiative weiter und bringen dabei ihre eigenen Ideen und vor allem auch beruflichen Kompetenzen mit ein. „Wir schaffen einen Raum für Körper, Geist und Seele“, erklärten sie. Dabei lassen sie ihre Fachkenntnisse als Kommunikationstrainerin und Coach, Kunst-, Musik und heilpädagogische Psychotherapeutin sowie Physiotherapeutin mit einfließen. „Wir möchten die Spurwechsel-Initiative noch gemeinschaftlicher machen, den Austausch fördern und uns gegenseitig unterstützen“, erklärte Silke Borgmann. Die Frauen zollten Monika Ziegler Respekt für ihren Einsatz und hofften, die Initiative in ihrem Sinne weiterzuführen.

Demut und Inspiration

Am Ende dieser inspirierenden Spurwechselkonferenz, die zauberhaft von Lea Wittmann an der Querflöte und Benjamin Wittmann an der Gitarre musikalisch untermalt wurde, blieb einem nur übrig, mit viel Demut auf die Schicksale dieser starken Persönlichkeiten zu blicken und dem Wissen, dass sie ihre Spurwechsel erfolgreich geschafft haben – und das wiederum schafft Mut. „Die Suche nach dem innersten Weg ist beschwerlich, aber notwendig, denn die künstliche Fassade, die wir im Außen schaffen, fällt irgendwann“, resümierte Andreas Kuhnlein.


Die Geschwister Wittmann begleiteten die Spurwechselkonferenz musikalisch. Foto: Petra Kurbjuhn

Der Spurwechsel-Stammtisch findet zukünftig immer am letzten Freitag im Monat, um 19.30 Uhr statt. Im Wechsel treffen sich die Spurwechsler dann im evangelischen Gemeindezentrum in Miesbach sowie in den Räumlichkeiten der Bürgerstiftung Holzkirchen. Alle Interessierten sind jederzeit herzlich willkommen. Die aktuellen Termine sind im KulturKalender zu finden.

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